DIE DIAGNOSEN STIMMEN OFT NICHT

Dem FC Bayern fehlen so viele Spieler wie lange nicht. Die Führung rätselt über die Gründe, speziell über die vielen Muskelverletzungen. Sportmedizin-Legende Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt arbeitete 40 Jahre für den Klub. Er sieht ein besonderes Problem.

Artikel in der Welt am Sonntag vom 21.04.2024

Interview von Julien Wolff

Welt am Sonntag: Herr Dr. Müller-Wohlfahrt, es heißt, Sie hätten in Ihrer bisherigen Laufbahn rund 35000 Muskelverletzungen behandelt?

Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt:
(überlegt kurz) Es dürften inzwischen sogar mehr sein.

Wie ist es zu erklären, dass der FC Bayern in dieser Saison bereits 24 Muskelverletzungen bei seinen Spielern zu beklagen hat?

Ich sehe ein grundsätzliches Problem im Profifußball. In der Bundesliga, aber auch in der englischen, spanischen, italienischen und französischen Liga.

Welches?

Die Kernspin-Technik. Ihr wird ein deutlich zu hoher Stellenwert eingeräumt. Der Glaube an sie ist viel zu groß geworden. Die moderne Sportmedizin befindet sich nicht im Stillstand, sondern in der Rückentwicklung.

Woran machen Sie das fest?

Die Fähigkeit, mit den Händen zu diagnostizieren, geht verloren. Die Vereine und die Trainer sind die Leidtragenden dieser Entwicklung. Bei den jungen Ärztekollegen vermisse ich das Rückgrat zu sagen: „Ich will selbst herausfinden, was die Ursache und Art der Verletzung ist.“ Zu mir in die Praxis kommen viele Spieler, aus verschiedenen Topklubs. Wissen Sie, was die mir oft berichten?

Was?

Dass ihr Klubarzt ihnen gleich als Erstes gesagt hat: „Geh direkt in die Röhre.“ Dabei ist es die Grundlage für einen guten Sportmediziner, dass er Verletzungen ertasten kann. Das sollte jeder Sportarzt mitbringen, gerade auf dem Level der Bundesliga. Jeder Sportarzt sollte noch auf dem Rasen oder spätestens in der Kabine eine Diagnose stellen können.

Eine hohe Anforderung, die viel Verantwortung mit sich bringt.

Klar. Ich habe diese Verantwortung gern übernommen, habe sie gesucht. Die Diagnosen werden heute zu spät und oft nicht richtiggestellt.

Ist es nicht nur zeitgemäß und richtig, dass sich Ärzte heute  die moderne Kernspintechnik zunutze machen?

Damit wir uns richtig verstehen: Die Kernspintechnik ist aus der Sportmedizin nicht wegzudenken und ein Segen. Ein Beispiel: Es kommen zahlreiche Footballer aus der NFL zu mir. Ihnen können wir dank Kernspinuntersuchung sagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit auf eine spätere Demenz ist. Aber für die Diagnostik von Muskelverletzungen ist die Technik ungeeignet. Die Bilder sind mehrheitlich irreführend – Kernspinaufnahmen zeigen keine Muskelverspannungen, keine Gelenkblockaden, keine neurogene Muskelverletzung bzw. Muskelübersteuerung. Oft werden die Kernspindiagnosen von den Ärzten nicht manuell überprüft oder abgeglichen. Folglich stimmen die Diagnosen oft nicht. Die Sprache des Muskels wird viel zu wenig gehört. Die Technik kann die Hände nicht ersetzen. Das wird sie niemals können.

Die Ärzte beim FC Bayern und in anderen Klubs müssen also aus Ihrer Sicht umdenken? 

Ich will grundsätzlich allen Sportärzten raten: Schaut hin, mit welchen Symptomen ihr es zu tun habt! Traut euch! Jede Muskelverletzung hat ihren typischen Ausdruck: eine Zerrung schmerzt krampfähnlich, ein Faserriss fühlt sich an wie ein feiner Stich, ein Bündelriss wie ein Messerstich, der Spieler geht sofort zu Boden und geht keinen Schritt mehr ohne Hilfe. Deswegen wundert es mich sehr, wenn Spieler zügig vom Platz gehen. Und es am nächsten Tag heißt: Muskelbündelriss. Oft werden auch Blockaden der Gelenke, zum Beispiel des Sprunggelenks, nicht erkannt. Das kann Auswirkungen auf andere Körperregionen haben. Das Diagnostizieren mit den Händen setzt einen langen Lernprozess und Geduld voraus. Diese Geduld haben zu wenige.

Welche negativen Folgen hat aus Ihrer Sicht das große Vertrauen in die Kernspinuntersuchung?

Die Ursache der Verletzung wird damit nicht untersucht und erkannt. Wenn man die Ursache nicht findet und nicht ausschaltet, braucht eine Verletzung länger zur Heilung. Oder sie tritt erneut wieder auf. Mein Ehrgeiz als Teamarzt war früher immer: Ich stelle eine endgültige Diagnose auf dem Rasen oder am Spielfeldrand, spätestens in der Kabine. Ich stand mit geschlossenen Augen an der Untersuchungsliege, Uli Hoeneß und der jeweilige Trainer haben mir über die Schulter geschaut. Ihre unmittelbare Frage nach der Untersuchung war: Was hat der Spieler, wann kann er wieder spielen?

Fühlten Sie sich unter Druck gesetzt?

Uli hat nie gesagt: „Du musst den schnell fit kriegen.“ Und auch nie den Einsatz von Medikamenten gefordert. Aber allein seine Präsenz hat einen motivierenden Druck ausgeübt – und er hat mich immer geschützt und mir sein Vertrauen ausgesprochen. Früher war auch noch Präsident Wilhelm Neudecker dabei. Hätte ich da gesagt „Der Spieler hat muskuläre Probleme“ – wie es heute so oft und unkonkret heißt – hätten die gefragt, warum sie mich als Teamarzt aus Berlin geholt haben. Eine Diagnose später zu korrigieren war undenkbar.

Welche Rolle spielen Physiotherapeuten im Profifußball?

Sie sind elementar wichtig. Doch die Verantwortung muss immer beim Klubarzt liegen. Wenn ich einen Spieler jeden Tag untersuche, dann spüre ich, dass sich eine Verletzung ankündigt. Man kann viele Verletzungen im Vorfeld abwenden. Der Trainer muss bereit sein, da mitzugehen und einem Spieler auch mal freizugeben oder ein Einzeltraining zu verordnen. Das Wechselspiel zwischen Trainer und Arzt muss stimmen. Dazu gehört hundertprozentiges Vertrauen.

Beim FC Bayern wurde zuletzt vermutet, der Hybridrasen auf dem Trainingsgelände könnte der Grund für die vielen Verletzungen sein.

Ganz klares Nein! Ein solcher Rasen ist heute Standard. Einen ähnlichen hatten wir schon unter Pep Guardiola. Der wurde sogar gewechselt, war aber nicht schuld an den Verletzungen damals.

Experte Didi Hamann vermutete bei Sky, das Training könne der Grund sein. Sein Gefühl sage ihm, bei Bayern werde zu wenig trainiert.

Es ist nicht die Schuld des Trainers. Thomas Tuchel hat in Sachen Training und Belastungssteuerung einen sehr guten Ruf. Er ist der Leidtragende, immer wieder muss er die Mannschaft neu formieren. Das ist schon eine enorme Schwächung für einen Klub.

Bei Bayern gab es auch viele „Re-Verletzungen“: Verletzte Spieler, die zurückkehrten, verletzten sich schnell wieder. Kann es sein, dass die sportliche Führung zu ungeduldig ist? 

Aus meiner Sicht nicht. Jedes Jahr heißt es: Der Fußball wird immer schneller, die Belastung für die Spieler immer höher. Lasse ich nicht gelten! Die Belastung war schon immer hoch, und die Trainer brauchten die Spieler schon immer so schnell wie möglich.

Welchen Einfluss haben aus Ihrer Sicht die vielen Verletzten der Bayern an dieser in der Bundesliga und im DFB-Pokal so erfolglosen Saison?

Die Saison wäre mit weniger Verletzten anders gelaufen, das kann man sicher sagen. Für den Trainer ist es untragbar, dass er ständig Stammspieler ersetzen muss. Und selbst nichts dafür kann.

Aber warum haben andere Bundesligaklubs  weniger Verletzte als Bayern? In einer Verletztenstatistik nach der Hinrunde belegten die Münchner den ersten Platz.

Ich kann nicht beurteilen, was die einzelnen Klubs in Sachen Prävention tun. Die Prävention ist jedenfalls ein ganz wichti- ger Faktor. Sie scheint mir in einigen Vereinen nicht gründlich zu sein. Zu meiner Zeit, unter Heynckes, Hitzfeld und van Gaal, waren Muskelverletzungen kein Thema bei uns. Auch unter Dettmar Cramer und Udo Lattek nicht. Vor ein paar Jahren hat die Uefa die Muskelklassifikation aus unserer Praxis zur Grundlage für wissenschaftliche Studien gemacht.

Allerdings: auch damals gab es anfällige Spieler. Arjen Robben fehlte auch unter Ihnen öfter.

Stimmt. Dafür gab es auch einen Grund, den ich hier nicht nennen kann. Er hatte auch lange beschwerdefreie Phasen auf Topniveau.

Ist die Kommunikation zwischen Trainern und medizinischer Abteilung heute noch eng genug?

Wir sind ja alle auf der Suche nach der Erklärung für die vielen Verletzten beim FC Bayern. Ich kann nur sagen, wie das Ideal in meiner Zeit aussah: Vor einem großen Monitor mit allen Daten und Informationen eines jeden Spielers besprachen wir uns jeden Morgen vor dem Training. Ich gab den Trainern, Fitnesstrainern und Physiotherapeuten gegenüber meine Einschätzung ab. Da wurde auch über Trainingsinhalte gesprochen. Das lief ideal.

Mehmet Scholl, den Sie lange behandelten, deutete an, dass diese Kommunikation bei den Bayern möglicherweise zu kurz kommt.

Jedenfalls hatten wir damals diese Verletztenprobleme nicht. 2013, nach dem Gewinn des Triples unter Heynckes, la- gen wir auf Platz eins der Uefa-Statistik, hatten die wenigsten Ausfälle aller europäischen Topklubs. Und da hatten wir so viele englische Wochen wie heute, unter Hitzfeld auch. Als Heynckes damals von Borussia Mönchengladbach nach München kam, sah er mich kritisch. Er glaubte nicht, was über mich geschrieben wurde. Dann untersuchte ich Lothar Matthäus – und sagte Heynckes: „Keine Chance, der verletzt sich erneut, wenn du ihn am Wochenende spielen lässt.“ Lothar wollte unbedingt spielen. Jupp hörte aber auf mich. Am Sonntag nach dem Spiel verletzte sich Lothar beim Kicken mit Freunden in seinem Garten. Heynckes sagte mir:„Du hattest Recht.“

Hat der FC Bayern zuletzt versucht, Sie in seine Lösungsfindung in Sachen Verletzten einzubinden? Wurde Ihr Rat eingeholt?

Dazu möchte ich mich nicht äußern.

Glauben Sie, dass sich die Sportmedizin so entwickeln kann, wie Sie es sich erhoffen?

Ich wünsche es mir. Und tue alles dafür, um Wissen weiterzugeben.

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