Von Julien Wolff
Freitagnachmittag in der Praxis von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, 81, in der Münchner Innenstadt. Ein Fußball-Profi ist an diesem Tag einer der letzten Patienten des wohl bekanntesten Sportmediziners Europas. Müller-Wohlfahrt, der auch Basketball-Star Dennis Schröder und viele Football-Profis aus den USA behandelt, ist wie jeden Tag seit acht Uhr früh bei der Arbeit. WELT AM SONNTAG empfängt er zum Gespräch in einem Ledersessel.
Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt:
Ich hatte Kontakt aufgenommen zu einer Reihe von Fachleuten und danach aufgrund persönlicher Erkenntnisse und Erfahrung eine eigene Behandlungsmethode frei von Schmerzmitteln entwickelt. Auslöser ist immer eine anhaltende Muskelverspannung bis Verkrampfung im Bereich der oberen Halswirbelsäule mit der Folge einer Verhärtung ihres sehnigen Ansatzes am Hinterkopf, insbesondere des M. Semispinalis. Der unter der Verhärtung verlaufende Nervus occipitalis major erleidet dadurch einen starken Druck und verursacht äußerst heftige Schmerzen in seinem gesamten Versorgungsgebiet. Darüber hinaus wird der N. trigeminus stimuliert und aktiviert, der mit dem N. occipitalis verschaltet ist und im Bereich der Schläfe und Stirn nahezu unerträgliche Schmerzen verursacht und für das Druckgefühl hinter den Augen verantwortlich ist. Der Nervus vagus kann mitbetroffen sein und Magensymptome wie Übelkeit auslösen. Eine Patientin sagte Anfang des Jahres zu mir: „Ich lebe kein Leben!“ Sie war arbeitsunfähig. Heute ist sie schmerzfrei und reist mit ihrem Wohnmobil durch Europa.Sie kann ihr Leben wieder genießen.
Ich erwarte von meinen Migräne-Patienten, dass sie solche Mittel vor der Behandlung bei mir absetzen. Die Ursache liegt im Bereich der oberen Halswirbelsäule. Die Behandlung dort besteht in der Lockerung der verkrampften Muskeln mittels Infiltrationen, Aufweichung der verhärteten Muskelsehnenansätze am Hinterkopf, Mobilisierung des oft blockierten Halswirbels C1 durch unseren Osteopathen. Die Patienten sind nach wenigen Behandlungen stabil schmerzfrei.
Weil die Wirbelsäule in ihrer Bedeutung allzu oft unterschätzt wird. Die Wirbelsäue ist die Schaltzentrale unseres Körpers, das zentrale Achsenorgan des Menschen. Von hier aus werden über motorische Nervenbahnen die Muskeln von Armen, Beinen und Rumpf gesteuert und koordiniert. Schäden oder Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule können empfindliche motorische Störungen, Schmerzen oder auch Muskelverletzungen im Sport verursachen.
Das liegt vor allem an den Lebensgewohnheiten. Wir sitzen viel zu viel – im Auto, auf dem Sofa, bei der Arbeit. Und wir bewegen uns zu wenig. Das geht schon bei den Kindern los. Leider wird die Schule ihren Pflichten in dieser Hinsicht nicht mehr gerecht, das regt mich auf. Sportunterricht fällt viel zu oft aus. Pro Woche müssten es mindestens drei Stunden Sport sein. Schulsport hat bei uns in Deutschland einen viel zu geringen Stellenwert. Zudem fehlen Grünflächen zum Toben. Da haben uns andere Länder einiges voraus. Die Kinder in unserem Land sitzen bis zu acht Stunden am Tag – das kann nicht sein. Studien haben ergeben, dass Kinder, die Sport treiben, aufnahmefähiger und wohl auch klüger sind. Bewegung ist das Lebenselixier des Menschen.
Ein Stehpult beim Arbeiten kann helfen. Beim Telefonieren aufstehen und im Büro auf und ab gehen oder auch gymnastische Übungen am Arbeitsplatz soweit dies möglich ist. Je älter wir werden, desto schwächer wird die Muskulatur. Umso mehr müssen wir tun. Anderenfalls gibt es sehr viele Begleitschäden und schlimme Erkrankungen wie Migräne, Tinnitus und Schwindel, alles von der Halswirbelsäule ausgehend. Und Probleme, die von der Lende her rühren: Hexenschuss und Ischias-Beschwerden zum Beispiel. Den Menschen fehlt aufgrund von Bewegungsmangel oft das Muskelkorsett, das die Wirbelsäule zusammenhält. Beim Thema Bewegung gibt es keine Ausreden. Nur Bewegung setzt die nötigen Reize für Muskeln, Knochen und Knorpel. Der Schlaf, die Verdauung und das Immunsystem können mit der Bewegung auch verbessert werden. Auch der Herzmuskel muss durch Sport trainiert werden. Unser gesamtes körperliches System lebt von der Bewegung. Nur nicht bequem werden! Und: Nur bei Muskelarbeit wird Fett verbrannt.
Zweimal pro Woche gehe ich laufen. Egal, wo ich bin. Ich habe meine Laufschuhe auf jeder Reise dabei. Kürzlich bekam ich eine Stirnlampe geschenkt, war damit sogar im Nebel laufen. Herrlich! Ich habe im Winter und Sommer dieselbe Laufkleidung an, verzichte auf eine Mütze. Nicht empfehlenswert – aber ich will mich abhärten.
In jungen Jahren kannst du dich genüsslich satt essen und brauchst keine Nahrungsergänzungsmittel – im Alter aber braucht es die sehr wohl. Etwa ab 65 Jahren können wir nicht mehr so viel Nahrung zu uns nehmen, wenn wir unser Gewicht halten wollen. Aber wo sollen dann die lebensnotwendigen Nährstoffe herkommen? Eine Reihe von Nährstoffen ist unbedingt empfehlenswert.
Aminosäuren zum Beispiel, von denen es acht essenzielle gibt, die der Körper nicht selbst produzieren kann. Unser Gehirn ist leistungsfähiger, wenn alle Aminosäuren ausreichend vorhanden sind. Der Körper baut beispielsweise aus der Aminosäure Tryptophan zusammen mit Zink, Folsäure und B-Vitaminen den Botenstoff Serotonin, das für positive Energie sorgt. Ich habe viele Patienten, die sich vitaler und wohler fühlen, seitdem sie Aminosäuren ergänzen. Wir können dem Gehirn und jeder Körperzelle damit helfen zu regenerieren. Ab 75 Jahren sind Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel in meinen Augen ein Muss. Viele Internisten sagen: „Das braucht es alles nicht.“ Ich sehe das anders – und stehe dazu.
Häufig Zink, Magnesium und Vitamin D3. Hier sehe ich die meisten Defizite. Zink ist ein Katalysator für die Neubildung von Eiweißstrukturen und stärkt das Immunsystem. Der Zinkwert muss im Normbereich sein! Magnesium sorgt für Herzkraft, bei etwa 70 Prozent aller Herzinfarkte liegt ein Magnesiummangel vor. Vitamin D3 unterstützt den Knochenstoffwechsel und das Immunsystem. Auch die Harnsäure sollte man beachten. Leider spielt sie in Deutschland eine viel zu kleine Rolle.
Die Obergrenze der Harnsäure im Blut wird sehr unterschiedlich gesehen, von sechs bis acht Milligramm pro Deziliter. Ein zu hoher Wert führt zu Knorpelerweichung, Bandscheibenschäden und Bindegewebeschwäche. Herzkranzgefäßerkrankungen sind oft auf Kalkablagerungen zurückzuführen. Ich sehe auf Röntgenbildern häufig, wie Kalkplaques sich in den Arterien der Patienten abgelagert haben. Und stelle dann unverhältnismäßig oft erhöhte Werte der Harnsäure und des Cholesterins fest. Ist der Blutdruck dann auch noch zu hoch, so muss man mit der Ausbildung einer Arteriosklerose rechnen.
Regelmäßige Laboruntersuchungen vornehmen. Wo stehe ich? Was geht in meinem Körper vor? Wo habe ich Defizite? Ich schwöre auf Laboruntersuchungen. Das ist kein großer Aufwand.
Wir müssen regional und saisonal denken. Man sollte sich öfter fragen: Was gibt die Jahreszeit in meiner Region her? Grünkohl im Winter zum Beispiel ist sehr gesund. Schwarzwurzeln und Kohl sind etwas aus der Mode gekommen,aber empfehlenswert. Mit Weizenmehl, zum Beispiel in Pasta und in Weißbrot, zurückhaltend sein. Gerade im Alter muss die Auswahl der Lebensmittel noch überlegter sein. Nur wenig Fleisch, wenig Milchprodukte. Ich muss immer wieder feststellen, dass viele sich zu einseitig ernähren.
Dadurch übersäuert der Körper allzu oft. Grund ist meist Unwissenheit. Es ist erschreckend, wie sich diese Übersäuerung auf das Bindegewebe auswirkt. Ich sehe solche Fälle jeden Tag. Durch die Säure wird das Bindegewebe kompakt. Es wird beinahe undurchlässig. Was die meisten nicht wissen: Die Nährstoffe, die zur Körperzelle gelangen müssen, werden in der Endstrecke nicht mehr über Gefäßkapillaren transportiert, sondern über das Bindegewebe. Die Nährstoffe kommen also nicht mehr oder in vermindertem Maße ans Ziel. Wissen Sie, was das bedeutet? Alterung! Die Zelle verkümmert. Und der Mensch altert viel früher. Ich kann also am Bindegewebe fühlen, ob sich jemand gesund ernährt.
Äpfel und Bananen zum Beispiel wirken basisch. Sie neutralisieren Säure. Genauso wie Kartoffeln oder grünes Blattgemüse. Da müssen sich Interessierte einfach mal schlau machen, es gibt so gute Ernährungsbücher. Die Menschen sollten sich nicht nur Rezepte besorgen, sondern sich inhaltlich mehr mit dem Thema Ernährung beschäftigen. Sie müssen sich mehr mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen. Jeder ist sich selbst gegenüber verpflichtet, gewissenhaft mit seinem Körper umzugehen.
Rückenschmerzen sind zur Volkskrankheit geworden. Kernspinbilder können bei der Diagnostik helfen, sind aber nicht alles. Auf den Bildern sieht man nicht die funktionellen Störungen oder Verletzungen. Wenn ein Muskel verkrampft ist, kann man das auf den Kernspinbildern nicht erkennen. Eine Muskelzerrung oder eine neurogene Muskelverhärtung kann ein Radiologe nicht sehen. Viele Ärzte verlassen sich ausschließlich auf Kernspinbefunde. Ein einfacher Weg! Aber die theoretischen Befunde stimmen oft nicht mit den praxisbezogenen Untersuchungsergebnissen überein.
Ich empfehle, morgens mit ansteigender Wärme zu duschen. Dabei die rechte Hand außen an den rechten Oberschenkel legen, die Schultern betont unten lassen und den Kopf zur linken Seite neigen. Dafür etwas Zeit nehmen. Danach dasselbe auf der anderen Seite. Man spürt danach eine Entspannung in den Schultern und im Nacken. Zudem gibt es eine weitere effektive Übung für die Lende, die ebenfalls morgens im Bad einfach durchzuführen ist: Sich schulterbreit in gebührendem Abstand je nach Körpergröße vor das Waschbecken stellen, daran festhalten und den Po bei gestreckten Beinen langsam nach hinten drücken. Immer noch ein bisschen weiter. Dann die eine Seite mehr betonen und danach die andere. Wer morgens steif aus dem Bett kommt, ist nach diesen recht simplen Übungen frei von Verspannungen.
Man sollte sich mit einer Sportart anfreunden, die einem Spaß macht. Ohne Sport geht es nicht. Ein Wohlfühl-Gefühl gibt es nur in Verbindung mit Bewegung. Filme, Bücher und Computer sind notwendig – aber das fördert nicht die Gesundheit.
Fußball und Handball eher nicht, da die Verletzungsgefahr bei Untrainierten recht groß ist. Aber es gibt so viele Möglichkeiten: Fahrradfahren, Laufen, Walken – die berühmten 10.000 Schritte pro Tag kann man damit locker schaffen. Wer Gelenkprobleme hat: Fahrrad fahren geht so gut wie immer. Oder der Crosstrainer, auf dem man ganz sicher schnell ins Schwitzen kommt. Egal, bei welchem Sport: Durchgeschwitzt zu sein – ein herrliches Gefühl!
Weiterhin Freude zu haben an meinem Tun, mir treu zu bleiben, und meine Disziplin zu bewahren. Schon als Kind gab es zum Beispiel auf dem langen Schulweg keine Rücksicht auf das Wetter. Morgen werde ich wieder joggen gehen. Es gibt keine Ausreden. Danach fühle ich mich immer wunderbar. Und ich möchte weiter Klavier spielen. Dabei bin ich in einer eigenen Welt, das ist für mich wie Meditieren.
Das werde ich jeden Tag gefragt. Der Himmel wird mir zeigen, wann es genug ist. Solange der Himmel es weiterhin gut mit mir meint – arbeite ich. Ich kann mir ein Leben ohne meine Arbeit mit Patienten nicht vorstellen.
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